„Schau mal, Mathias, die ist aber verdammt fett.“
Wenige Sekunden und einige Entschuldigungen meinerseits, hatte ich von der wutschnauffenden Dicken fast eine gefangen. Dabei war es nicht ich, der sie beleidigt hat. Im Grunde genommen war es ja nicht einmal eine Beleidigung. Ich musste die Backe hinhalten für meine 6jährige Begleitung. Ein Kind.
Ein Kind das sah, dass die Frau durch die eine U-Bahn-Türe gerade so durch passte und daraus folgerichtig schloss, dass diese Frau nicht nur dick, sondern „besonders dick“ – also „fett“ sein musste.
Kinder überlegen eben nicht.
Sie sagen was sie denken und denken nicht verschleiert, sondern in purer Wahrheit.
Wenn jemand stinkt, dann äußern sie es in der selben Lautstärke, als wenn sie jemanden sagen wollen, dass er beim Fangen-Spielen der Nächste sei.
Es ist eine Art Reflex, ein Trieb sozusagen.
Die Wahrheit als eingebauter Trieb des Menschen.
Und wie so oft, haben es auch hier die Menschen geschafft Triebe mit der Zeit zu konditionieren, zu unterdrücken und anzupassen.
Wahrheit ja, aber nicht um jeden Preis, nicht für jeden und vor allem nicht immer mit Lautstärke gesegnet.
Ebenso ist es mit der Naivität.
Einen Kind wird sie zugestanden.
Einem Erwachsenen nach und nach aberzogen.
Ob er will oder nicht.
Desto öfter wir an Menschen herangetreten sind, ihnen naiv begegneten und vertrauten, desto öfter wurden wir verletzt, enttäuscht und „konditioniert“.
Es ist ähnlich wie mit der heißen Herdplatte – nur eben auf Langzeit angelegt.
Die kindliche Naivität erlaubt es uns jedem und alles zu lieben.
Kinder mögen keine Spagetti, sie lieben sie.
Kinder lieben ihre Eltern.
Kinder lieben das Fernsehen.
Und natürlich McDonalds, Harry Potter, und und und…
Es ist für sie natürlich zu lieben – alles andere ist nicht denkbar.
Deshalb denken Kinder auch nicht in Hautfarben, Nationalitäten, Kasten, oder Adelstiteln.
Sie handeln eigentlich richtig, denn wie wir „wissen“ sollte ja „lieben“ nicht viel mit „denken“ zu tun haben, oder?
Liebe – also scheinbar auch ein angeborener Trieb?
Und – wen wird es überraschen? – wir konditionieren uns in diesem Punkt perfekt selbst. Jeder für sich – und wenn man mal ins Stocken geraten sollte… keine Sorge – da helfen sich Erwachsene sehr gut gegenseitig weiter.
Ich erkläre…
Ich ging naiv an viele Menschen heran. Vertraute ihnen, wurde enttäuscht, verletzt, gekränkt, ausgelacht, angeprangert…
Ich lernte, ich konditionierte.
Ich wurde immer verschlossener, vorsichtiger, zurückhaltender mit meinen Gefühlen, zynischer, um mit der immer größer werdenden Gefühllosigkeit fertig zu werden, und misstrauischer, um den letzten Rest meiner Gefühlswelt nicht auch noch zu verlieren.
Ein erwachsener Mensch ist also ein gebeuteltes Stück Liebe und Wahrheit, welches sich nicht mehr traut anderen mit sich selbst, also Liebe und Wahrheit, zu begegnen, sondern nur noch mit Misstrauen, Vorsicht und letztendlich kompletten Verzicht.
Spinnen wir den Gedanken weiter.
Da wir eh schon so gut im Konditionieren sind und uns mit der Zeit anerziehen, dass es sinnlos, gefährlich, nicht gut für uns und unvernünftig ist anderen mit Liebe und Wahrheit zu begegnen – ist es dann nicht die logische Folge, dass wir auch aufhören uns selbst gegenüber Liebe und Wahrheit aufzubringen?
Wir konditionieren uns also im Laufe der Jahre hin zur Gefühlstaubheit.
Schwieriges Thema.
Deshalb lieber:
Anderes Thema.
Ich habe vor wenigen Tagen mal wieder nicht wirklich einschlafen können und die DVD-Staffeln meiner Lieblingsserie raus gekramt.
Die Geschichte der Folge 16 ist schnell erzählt.
Mal wieder ein mysteriöser Krankheitsfall. Frau fällt einfach so um, schreit vorher noch ein wenig rum, Lupus und Krebs kommen nicht in Frage und alle Geschlechtskrankheiten samt der Neurosyphillis können durch Tests ausgeschlossenen werden. Also suchten die Ärzte weiter und weiter und zum Schluss -welch Wunder- fanden sie die Lösung kurz bevor die Patientin abgekratzt wäre und alles war wieder gut.
Das besondere an dieser Folge war: Die Frau war eine Psychopathin.
Ich fand das interessant und recherchierte:
Ein Psychopath ist ein Mensch, der entweder durch einen genetischen Defekt, einen Unfall, eine Krankheit oder einen angeborenen Fehler bestimmte Teile seines Gehirnes nicht nutzen kann.
Diese Teile sind für die Gefühle zuständig. Sie sagen uns, wie sich Liebe, Schmerz, Leid, Freude, Trauer … anfühlen.
Besser gesagt: Sie teilen es uns nicht mit, sie machen es mit uns.
Wir sind dann Liebe.
Wir sind dann Trauer.
Wir sind dann Leid.
Bei einem Psychopathen sind diese Teile des Gehirnes inaktiv.
Er kann einen Menschen umbringen ohne Schuldgefühle zu haben, weil er sie nicht fühlen kann, weil er sie nicht ist.
Er kann einen Menschen verletzen, weil er das Gefühl der Scham, des Mitgefühles, des Mitleides nicht kennt.
Ein Psychopath kann geliebt werden, ohne es zu fühlen, weil er nicht Liebe sein kann.
Er hört von anderen, dass er es sein müsste -verliebt, bestürzt, verletzt, glücklich – aber er kann es nicht verstehen. Er flüchtet sich meist in die Welt der Kalkulation und lebt in reiner Berechnung.
Anders ausgedrückt:
Ein Psychopath ist also ein Mensch, der sich die Liebe nicht selbst weg konditionieren muss, sondern bei dem das schon beispielsweise die Natur erledigt hat.
Gehe ich nun zu weit, wenn ich frage, ob es wirklich erstrebenswert ist in einer Welt voller Psychopathen zu leben?
Und wenn man uns nun vor die Wahl stellen würde: Auf welchem Planten würden wir lieber leben? Auf dem, der von Psychopathen bevölkert ist, oder auf dem, der von Kindern bewohnt wird, die einem zwar sagen, dass man extrem fett ist, aber die einen grundlos lieben.
Wieso?
Weil es jeder einzelne von uns verdient hat.
Grundlos.
Und ohne zeitliche Begrenzung.
Für ewig – denn in meinen Augen ist der Anspruch auf Liebe ein Grundgesetz, das so selbstverständlich zu sein schien, dass es damals, als man unsere Verfassung festhielt, einfach vergass diesen Punkt mit aufzunehmen.
Wir protestieren wenn wir in unserer Rede-, Meinungs- oder Religionsfreiheit beschnitten werden. Wir brüllen sogar schon los, wenn wir nur ahnen, dass wir beschnitten werden könnten.
Selbst aber zensieren wir uns unsere Liebesfreiheit mit jedem Tag, mit dem wir älter werden, ein weiteres Stück zu recht.
Macht das Sinn?
Oder ist es doch möglich Kind zu bleiben und trotzdem erwachsen zu werden?
Ein erwachsenes Kind also.
Ein erwachsener Mensch, der liebt, weil es richtig und uns angeborenen ist.
Ein Erwachsener, der nicht hinterfragt, sondern Liebe als natürliches Gesetz versteht.
Zu absurd?
Ich weiß es selber nicht.
Wahrscheinlich stehe ich dem Psychopathen bereits zu nahe – aber damit bin ich zumindest nie allein.