Lil ist ein sehr wichtiger Mensch in meinem Leben – und weil ich sie mittlerweile in und auswendig, korrigiere ich gleich und schreibe „sie sei der wichtigste Mensch in meinem Leben“, um mir wütendes Geräusper und hartes Aufschrecken ihrerseits zu ersparen.
Zeitgleich ist sie allerdings das personifizierte Vergessen.
Ein Beispiel: Man rufe sie um 16 Uhr an, erinnere sie an drei Dinge. Beispiel: ein Paar Socken, ein Buch und eine Gabel. Um 17 Uhr 30 verlässt die Dame das Haus. Und was hat sie dabei? Genau. Eine Socke. Die Andere hat sie nicht mehr gefunden, da sie eigentlich um 17 Uhr losfahren wollte, aber es irgendwie verplant hatte, oder einfach nur auf der Sonnenliege die Zeit vergaß. Offizielle Version: „Ich hatte Stress!“ Dann erklärt sie einem, welch ein „Stress“ es war allein schon diese eine Socke mitzubringen und versucht so gar keinen Raum zur Klage um die Zweite zu lassen.
„Und Buch? Die Gabel?“
„OH – da hättest du anrufen müssen.“
„Hab ich..“
„Aber mir keine SMS geschrieben, oder?“
„Ah ja…“
„Hey – ich hatte Stress.“
„Wie immer.“
„Hey – ich habe Kinder.“
Und somit bin ich schachmatt gesetzt. In Anbetracht ihrer zuckersüßen Brut kann ich mir meine „Kondome-schützen“-Argumentation sparen. Also akzeptiere ich und freue mich über meine Socke. Zumindest die Eine. Und wer weiß, mit ein wenig Glück habe ich nächste Woche Socke Nummer zwei, die Woche drauf vielleicht Gabel und dann vielleicht sogar mal das Buch. Vorausgesetzt der „Stress“ nimmt nicht überhand.
Das Argument der Kinder ist zeitgleich neben der Stress-Ausrede, die Erklärung für alles. So wie manche Menschen bei einer Diskussion nach einiger Zeit nur noch mit „Trotzdem…“ argumentieren. Lils „Trotzdem…“ ist einfach im Laufe der Jahre zu einem „Ich habe Kinder“ geworden. Sprich: Ihr Standard-Argument, wenn sie eigentlich keines mehr hat.
Ein Beispiel.
Es gibt anscheinend Menschen (ich kennen einen), die nur schlafen könne, wenn der Schlafraum einem lichtleeren Vakuum ähnelt. Einem schwarzen Loch. Es darf kein Lichtstrahl, keine sanfte Note einer durch den Vorhang schimmernden Straßenlaterne, keine leichte Projektion eines Radioweckers, kein unter dem Türspalt durch blendender Lichtstrahl – ja nicht mal ein Lichtatom im Raum herrschen, sonst können diese Menschen nicht schlafen. Kurz: Sonst wird Lil zur Furie.
Ich habe es mir ein einziges Mal erlaubt diese Umstände zu hinterfragen.
„Vor der Geburt war das anders, aber seitdem ich Kinder habe… (da ist es wieder- das Schachmattargument) …sind wahrscheinlich meine Sinne geschärft.“
Ah – verstehe. Klar. Die wachsame Adlermutter, die schützend um ihr Nest kreist.
Aber es sei doch eine kurze Gegenfrage erlaubt.
Die erstickenden Kleinkinder, die nachts nach Luft ringend um ihr Überleben kämpfen, geben die Lichtzeichen? Kämpfen sie sich wie Rambo durch den Dschungel, durch ihr Bettchen, vorbei an Rasseln, Plüschtigern, Schnullern, um zum rettendem Lichtschalter zu gelangen und der Mutter mit letzter Kraft Lichtsignale zu senden? Sozusagen kodierte Morsezeichen? Und hat jemand schon mal folgendes Szenario gesehen, miterlebt oder zumindest mal davon gehört: Eine Mutter wacht mitten in der Nacht in einem lichtleerem Raum auf, der Mann neben ihr wir ebenfalls wach und fragt nach der Ursache der Unruhe und bekommt als Antwort ein hysterisches, aber zum Kampf um das Leben des Kindes bereites „Das Kind BLINKT!“
Ich nicht. Noch nie gehört. Geschweige denn miterlebt. Aber gut, das steht hier auch nicht zur Debatte, denn die Frau hat Kinder – und Stress.
Außerdem darf man nicht vernachlässigen, dass sie nicht nur mit den Problemen des jetzigen Lebens zu kämpfen hat, sondern auch im vollen Bewusstsein ihre Fehler aller vorherigen Leben korrigieren möchte – muss – will.
Auf diese stößt sie, als angehende Heilpraktikerin und auch zugegebenermassen etwas zu fanatischer Fan des Übersinnlichen, eher zufällig. So zum Beispiel auf ihre frühere Existenz als Jüdin.
Wir waren in Berlin. Als Spät- und Frühaufsteher teilten wir uns auf. Lil besichtigte morgens alle Museen, während ich ausschlief. Am frühen Nachmittag, alias meinem Morgen, überschnitten sich unsere Tagesrhytmen und wir unternahmen etwas zusammen. Es war unser vorletzter Tag in Berlin. Lil hatte am Abend zuvor irgendetwas von einem Museum erzählt, aber ich hatte nur halb zugehört, da sie ja jeden Abend ihre Route für den nächsten Tag mit mir besprechen, bzw. mir vorsprechen musste.
Als ich aufwachte, war es früher als sonst, circa 12 Uhr 30. Ich zog mich an und marschierte sofort schlaftrunken und halb bewusstlos zur nächsten Bushaltestelle um zum Zoo zu fahren. Ich wollte den damaligen Superstar Berlins live erleben. Knut – das Eisbärenbaby. Der Plan war perfekt. In drei Minuten sollte mein Bus kommen, ich wäre in etwa eineinhalb Stunden und zwei Tassen Kaffee zu Bewusstsein gekommen und hätte so Knut kurz nach Eintreten der Nüchternheit gesehen.
Aber es kam anders. Handy. Am anderen Ende eine verheulte, an Tränen erstickende Lil.
„Ich bin v…r….sa…. worden.“
In meinem morgendlichen Charme entgegnete ich mit einem Gentleman-“Was?“
„ICH BIN VERGAST WORDEN !“ kam energisch, leicht aggressiv durch den Hörer gebrüllt, um aber gleich wieder ins Weinerliche umzuschwenken.
„Wo bist du?“
„Auf dem Klo…“
„Aha – ich fahr` zu Knut!“
Achtung an alle Männer:
Eine heulende Frau, der es schlecht, oder die auch nur annimmt, dass es ihr schlecht ginge, kann blitzartig vom Weinerlichen zum Aggressiven switchen.
„Du kannst mich hier nicht allein lassen, du Arsch. Ich bin VERGAST worden.“
Gegen „vergast worden“ gibt es kein Gegenargument. Also musste Knut dem jüdischen Museum weichen und ich musste eine vergaste 600 Jahre alte Jüdin wieder beleben.
Was tut man nicht für Freunde.